Mehr Zeit (Buchrezension)

„Mehr Zeit“ von Jake Knapp (bekannt geworden durch das Buch „Sprint: Wie man in nur fünf Tagen neue Ideen testet und Probleme löst“) wurde mir schon mehrfach als „das beste Produktivitätsbuch“ angepriesen. Es lässt sich von seinem Tenor irgendwo zwischen „Konzentriert arbeiten“ von Cal Newport und „Essentialismus – Die konsequente Suche nach Weniger“ ansiedeln. Zwei Bücher, die mir enorm gut gefallen haben und daher musste ich natürlich auch „Mehr Zeit“ lesen. Danke an dieser Stelle noch einmal an den Redline Verlag, der mir das Buch als Rezensionsexemplar für diesen Artikel zur Verfügung gestellt hat.

Vermutlich kennen wir alle das Gefühl, dass wir den ganzen Tag beschäftigt sind aber doch am Ende des Tages nichts geschafft haben. Und das obwohl wir ständig das Gefühl haben, zu wenig zu schlafen, zu wenig Qualitytime mit Menschen zu verbringen, die uns gut tun und zu wenig Sport zu machen. Doch wofür geht unsere Zeit drauf? 

Der Busy Bandwagon und das Problem der Infinity Pools

Die beiden Autoren Jake Knapp und John Zeratsky arbeiteten beide für große Tech-Unternehmen und wirkten unter anderem an der Entstehung von Google Mail und Youtube mit. Sie kennen sich also mit den psychologischen Taktiken, mit denen uns solche Apps in ihren Bann ziehen bestens aus. 

Als „Infinity Pools“ bezeichnen sie Apps, die uns dazu anregen alles um uns herum zu vergessen und uns immer tiefer in ihren Bann ziehen. Infinty Pools arbeiten mit endless scrolling im Homefeed, wie man es von TikTok, Instagram und nahezu jeder anderen Social Media App kennt. Aber auch mit Notifications und schlauen Algorithmen. Wenn du etwas auf einem Social Network postest, wissen diese Apps ganz genau, wem sie den Post anzeigen müssen, damit du direkt die ersten Likes kassierst. Dadurch wird dein Contenterstellerverhalten belohnt und die Chance steigt, dass du weiterhin Zeit in diese App investierst. 

Damit sind vor allem Creator natürlich vertraut. Der Algorithmus ist Fluch und Segen zugleich, denn natürlich versucht man als Creator immer seinen Content so zu optimieren, dass er besonders stark an die eigenen Follower:innen ausgespielt wird. 

Doch Infinity Pools sind eben auch Slotmachines, die dazu beitragen, dass wir alles um uns herum vergessen und wie beim Glücksspiel immer wieder die gleichen Handlungen (App öffnen, aktualisieren, scrollen) wiederholen, in der Hoffnung etwas zu entdecken, was uns einen kurzen Dopaminschub versetzt. Für Creator ist das super, doch da jeder Creator gleichzeitig auch Konsument ist (und auch sein muss, um ein Gefühl dafür zu bekommen, welcher Content gut funktioniert) kann uns das extrem viel Zeit kosten, die wir anders nutzen können – wenn wir wollen.

Ich persönlich mag keine Untergangsszenarios darüber wie schrecklich Social Media ist und dass wir dadurch alle zu asozialen Zombies werden. Dieses ganze dramatisieren nervt mich nur noch. Das Buch „Mehr Zeit“ ist für mich aber genau deswegen sehr sympathisch geworden. Denn die Autoren geben zu, dass sie selbst an solchen Apps mitgewirkt haben und dass sie grundsätzlich nichts gegen Social Media haben. Aber, dass es unter Umständen sinnvoll sein kann Ablenkungen zu reduzieren und dazu gehört eben auch Social Media, wenn wir in bestimmten Bereichen weiterkommen wollen. Damit sind sie schon mal weniger radikal als Cal Newport, der ja bis heute keinen Social Media Account hat und viele Jahre nicht mal ein Smartphone besaß. 

Als „Busy Bandwagon“ bezeichnen die Autoren das Phänomen, dass man uns immer mehr und mehr auflädt. Ständig sind wir versucht erreichbar zu sein, jedes Meeting mitzunehmen und nach den Prioritäten anderer Menschen zu handeln. Greg McKeown hat in „Essentialismus – Die konsequente Suche nach Weniger“ sehr ausführlich über die Kunst Nein zu sagen geschrieben. Und auch hier wird dieses Problem aufgegriffen. 

Ablenkungen reduzieren

Es geht in „Mehr Zeit“ eben nicht darum mehr zu schaffen, indem wir noch mehr und mehr arbeiten. Viel wichtiger ist, dass wir die Zeit schaffen uns auf das Wesentliche zu konzentrieren, indem wir unwichtige Energiefresser aus unserem Leben verbannen. Und Ablenkungen, sowie Reibungen reduzieren.

Die Autoren empfehlen das Smartphone ablenkungsfrei zu gestalten, indem wir Apps die unsere Aufmerksamkeit immer wieder auf sich ziehen, aber keinen Nutzen bieten, löschen oder die Zeit dafür einschränken. Darüber hinaus sollen wir bewusst Zeit in unserem Terminkalender blocken, die wir dafür aufbringen um konzentriert an den Sachen zu arbeiten, die uns wichtig sind. 

Das tägliche Highlight

Das Herzstück von „Mehr Zeit“ ist das tägliche Highlight. Das tägliche Highlight ist die wichtigste Aufgabe, die man an diesem Tag schaffen will und das muss nicht unbedingt eine Business-relevante Aufgabe sein. Das tägliche Highlight kann das Abendessen mit Freunden sein oder mit den Kindern Fußball zu spielen. Wichtig ist, dass wir jeden Tag ein tägliches Highlight schaffen und es uns zur obersten Priorität machen, dieses tägliche Highlight zu erreichen. 

Ich verfolge seit einigen Jahren eine ähnliche Taktik. Ich frage mich immer: „Wenn ich heute nur eine Sache tun könnte – Welche wäre das?“ Und in der Regel setze ich dann alles daran diese Aufgabe zu allererst zu erledigen. 

Es ist natürlich beim täglichen Highlight nicht immer möglich, dieses direkt morgens vor allen anderen Sachen zu erledigen. Vor allem, wenn es sich dabei um das Abendessen mit Freunden handelt oder andere Aufgaben, die den Terminkalender anderer Menschen betrifft. Doch zumindest geistig können wir uns darauf vorbereiten den Tag über alles so zu erledigen, dass unserem täglichen Highlight nichts mehr im Wege steht.

Mehr Energie für bessere Ergebnisse 

Die Autoren geben zwischendurch immer wieder Tipps, mit denen wir generell mehr Energie in unser Leben ziehen.

Ich glaube für Menschen, die ständig in einer Reizüberfluteten Atmosphäre leben kann es schon sehr befreiend sein, Ablenkungen zu reduzieren und sich von den Unterbrechungen durch andere Menschen zu befreien. Darüber hinaus finden wir in „Mehr Zeit“ noch einige Tipps, die generell das Energieniveau von Körper und Geist anheben.

So zum Beispiel Tipps um

  • besser zu schlafen 
  • besser (und natürlicher) zu essen 
  • auf Zucker zu verzichten 
  • den Konsum von Koffein besser zu timen
  • uns mehr zu bewegen
  • etc.

Die Tipps werden allerdings nur sehr oberflächlich angerissen. Was ich persönlich nicht schlecht finde, denn das Buch erhebt hier keinen Anspruch darauf, dass die Autoren Experten für die hier aufgeführten Bereiche wären. Ganz im Gegenteil, ich fand es sogar sehr sympathisch, dass beide Autoren zugaben, dass sie sich selbst nicht immer zu 100% an diese Tipps halten. Auch sie schauen mal Netflix, installieren im Urlaub ab und zu wieder die Gmail App auf ihrem Smartphone, um uptodate zu bleiben und schaffen es nicht immer auf Zucker zu verzichten. Doch sie beschreiben auch, dass wir mit kleinen Veränderungen oft schone einen Schritt in die richtige Richtung unternehmen. 

Das Energietagebuch

Eine gute Möglichkeit um herauszufinden, was einem selbst mehr Energie verleiht, ist ein Energietagebuch. Hier schreibt man auf, wie es sich mit der Energie im Alltag verhält. Wie hoch ist der Energiepegel nach einer kurzen Joggingrunde am Morgen und wie hoch ist er nach dem Dessert am Mittag? Hat ein kurzer Powernap geholfen, um wieder in die Spur zu kommen oder fühlten wir uns danach nur noch matschiger? Das sind alles sehr individuelle Fragen. 

Ich persönlich habe zum Beispiel in den letzten 10 Jahren immer wieder die Erfahrung gemacht, dass mir Sport vor der Arbeit überhaupt nichts bringt und mich eher unproduktiver macht, obwohl es Millionen Ratgeber gibt, die sagen, dass Sport am Morgen das Beste sei. Aber mein Biorhythmus funktioniert offenbar einfach nicht so. 

Und das sollte man bei all diesen Tipps immer im Hinterkopf behalten: Es gibt kein Patentrezept. Und häufig ändern wir uns auch. Ich bin seit rund 6 Jahren ein großer Freund vom digitalen Minimalismus und habe rausgefunden, dass es für mich wirklich super funktioniert, wenn ich alle Benachrichtigungen ausstelle oder mein Smartphone bei der Arbeit komplett abschalte. Ich würde auch jedem raten es so zu machen. Aber das Verrückte ist: irgendwann zu Beginn der Corona Pandemie hatte ich eine Phase von ein paar Monaten, wo ich gemerkt habe, dass es mir in meiner Produktivität extrem hilft, wenn ich zwischen den Arbeitspausen kleine Handygames spiele. Das ist total widersprüchlich zu allem, was ich in den letzten Jahren an mir beobachtet hatte. Aber möglicherweise war es für mein Gehirn zu dieser Zeit einfach sehr entspannend zwischendurch diese Gamingpausen einzulegen. Das mag an der Zeit gelegen haben. Corona hat schließlich für uns alle große Umstellungen gebracht und vielleicht war ich einfach zu sehr gelangweilt, als ich nicht mehr groß das Haus verlassen habe. Auf jeden Fall habe ich damals festgestellt, dass mich diese Ablenkungen für einige Zeit sogar produktiver gemacht haben und auch das steht im radikalen Gegensatz zu so gut wie allen Ratgebern, die es auf diesem Gebiet gibt.

Es gibt da draußen sehr viele extrem gute Bücher. „Mehr Zeit“ ist sicherlich eines davon. Doch im Endeffekt sind wir alle sehr individuell und es kann gut sein, dass bei dir einige dieser Tipps überhaupt nicht funktionieren oder dich sogar unproduktiver machen. Das wirst du aber nur herausfinden, wenn du es ausprobierst und dokumentierst, was dich weiterbringt, was dir hilft konzentriert und motiviert zu bleiben und was deine Regeneration fördert. 

Fazit

Lass nicht zu, dass du für die Prioritäten anderer Menschen herhalten musst. „Mehr Zeit“ ist ein gutes Buch. Ich würde es sogar Anfängern empfehlen. Wer „Digitaler Minimalismus“ und „Konzentriert arbeiten“ von Cal Newport gefeiert hat, wird auch dieses Buch lieben.

Im Großen und Ganzen sind die Ideen und Prinzipien aus dem Buch natürlich nicht neu. Wir haben sie in vielen Büchern schon in der Form gelesen. Zumindest, wenn wir viele Bücher im Bereich der persönlichen Entwicklung gelesen haben. Ich fand es aber insgesamt sehr nett zu lesen und wie wir wissen: Die Wiederholung ist die Mutter des Lernens. Ich kann das Buch daher mit gutem Gewissen weiterempfehlen.