Buchrezension: Das Harvard Konzept

Das Harvard Konzept – Der emphatische Weg zu verhandeln, statt zu feilschen 

Verhandeln ist ein wichtiger Teil des Lebens. Wir tun es jeden Tag und oft ist es uns nicht bewusst. Wir verhandeln mit unseren Freunden, dem Chef oder den Kunden und unserem Partner. Das Harvard Konzept ist ein Framework für Verhandlungen, bei dem es vor allem auf emphatisches Verhandeln ankommt. Damit ist gemeint, dass das Gegenüber nicht durch Autorität oder Stärke in die Knie gezwungen wird. Schon Machiavelli wusste, dass man einen Feind – wenn man ihm Schaden zufügt – am Besten komplett vernichten sollte, denn sonst sinnt er auf Rache und verbringt die Zeit der Unterdrückung damit, sich gegen den Herrschenden zu formieren, um dann zuzuschlagen, wenn man es am Wenigsten erwartet.

Darüber waren sich auch die Entwickler des Harvardkonzepts bewusst. Das Ziel ist es also, dass jeder sein Gesicht wahren kann und dass wir unserem Gegenüber in der Verhandlung auf Augenhöhe begegnen. Anstatt auf unseren Positionen zu beharren, wie beim klassischen Feilschen einfach nur irgendwelche Gebote in den Raum zu werfen – oder schlimmer noch: irgendwann nachzugeben, mit einem schlechten Gefühl, was nur Unmut auf beiden Seiten erzeugt, geht es beim Harvard Konzept darum, die Personen von der Sache zu trennen und die Position des Gegenübers vom Interesse.

Konzentriere dich immer auf die Interessen, nicht auf die Position 

Eine bekannte Geschichte verdeutlicht dies:

Zwei Kinder streiten um eine Orange. Die Positionen der beiden Kinder sind klar: jedes Kind möchte die Orange haben. Doch die Interessen sind an dieser Stelle nicht geklärt. (Ich gebe zu, dass ich anfangs auch ein wenig gebraucht habe, um „Positionen“ von „Interessen“ zu unterscheiden). Das eine Kind möchte die Orange, um die Frucht zu essen. Das andere Kind möchte die Schale für einen Kuchen haben.

Nun einigen sie sich auf einen Kompromiss. Sie teilen die Orange in zwei Hälften und jedes der Kinder erhält eine davon. Das erste Kind isst das Fruchtfleisch seiner Hälfte und schmeißt die Schale weg. Das andere Kind nutzt die Schale seiner Hälfte und wirft dann die Frucht in den Müll. Obwohl die Kinder vordergründig zu einer Lösung ihres Konflikts gekommen sind, haben sie gewissermaßen beide verloren. 

Ein Kompromiss produziert fast immer Verlierer

So ist es meistens, bei einem Kompromiss. Anstatt, dass sich beide aufeinander zubewegen, um eine gemeinsame Lösung zu finden, verlieren beide. 

Wenn ich mich nicht entscheiden kann, ob ich die braunen Schuhe oder die schwarzen Schuhe anziehen soll, hilft mir ein Kompromiss nicht weiter. Denn beide Lösungen – also die braunen Schuhe oder die schwarzen Schuhe – wären besser gewesen, als mit einem braunen und einem schwarzen Schuh auf die Straße zu gehen.

Ein ähnliches Beispiel brachte Jack Nasher vor einigen Jahren in seinem Vortrag bei Gedanken tanken : Er erzählte davon, dass er und seine Freundin unterschiedliche Urlaubsziele hatten. Ein Kompromiss wäre, auf einer Landkarte einfach zwischen beiden Orten die Mitte zu wählen: Dann wären sie in der Wüste gelandet. 

Stattdessen konzentrierte er sich aber auf die Interessen der jeweiligen Verhandlungspartner. Also konnten sie gemeinsam ein Urlaubsziel auswählen, das für beide eine gute Lösung darstellte. 

Emphatisches Verhandeln: Die beste Fähigkeit für eine Verhandlung ist die Fähigkeit die Situation aus den Augen des Gegenübers zu sehen

Das Harvard Konzept legt großen Wert auf Empathie. Um das Interesse hinter der Position seines Verhandlungspartners zu erkennen, ist es wichtig die Welt und den Streitgegenstand durch seine:ihre Augen zu sehen. In der Verhandlung sollte vor allem auf Schuldzuweisungen verzichtet werden.Schuldzuweisungen sind immer kontraproduktiv, selbst wenn sie gerechtfertigt sein sollten (oder so erscheinen).

Sinnvoll kann es auch sein die Verhandlung aus der Sicht eines unabhängigen Dritten zu betrachten, um etwas Abstand zur Situation zu gewinnen.

Der innere Kritiker behindert das kreative Denken! 

Eine gute Möglichkeit ist es zunächst einmal ganz ungehemmt Ideen in einem Brainstorming zu sammeln, wie ein Konflikt gelöst werden kann. Hierbei sollen die Ideen nicht bewertet oder kritisiert werden. Viel wichtiger ist es, eine Atmosphäre gegenseitiger Wertschätzung und des Vertrauens zu schaffen, in der beide Parteien einfach alles ungefiltert rauslassen können, was ihnen im Kopf herumschwirrt. Denn häufig ist es so, dass der innere Kritiker ansonsten schon gute Ideen im Keim erstickt und das kreative Denken hemmt. Es ist daher unabdingbar auf die Beurteilung der Ideen im ersten Schritt zu verzichten, um die Kreativität nicht zu behindern.

Win-Win: Bei einer Verhandlung muss es nicht zwingend einen Verlierer geben

Verhandlungen haben vor allem deswegen einen schlechten Ruf, weil wir häufig davon ausgehen, dass sie Verlierer produzieren. Das fällt besonders bei Preisverhandlungen auf. Wenn mir der Verkäufer einen Rabatt gibt, bin ich der Gewinner, weil ich dadurch etwas spare. Aber der Verkäufer wird dadurch zum Verlierer, denn er schmälert seine Provision. Warum sollte er mir also einen Vorteil verschaffen, der für ihn selbst ein Nachteil ist? 

Ganz häufig gehen wir mit diesem Kampf-Mindset in eine Verhandlung. Dabei wäre es doch förderlicher sich darauf zu konzentrieren, was beide Parteien gemeinsam haben und was beide wollen. Der:die Verkäufer:in möchte einen Abschluss machen und seine Provision erhöhen. Der:die Kunde:in möchte nicht über den Tisch gezogen werden und ein gutes Geschäft machen.

Doch beide wollen vor allem eine positive Geschäftsbeziehung. Glückliche Kund:innen sind solche, die Bewertungen schreiben, das Geschäft weiterempfehlen, dadurch mehr Kund:innen in den Laden bringen und selbst zu Stammkund:innen werden. Wenn der:die Verkäufer:in seine:ihre qualitativ hochwertige Ware an eine Person bringt, die die Qualität zu schätzen weiß und mit einem guten Gefühl das Geschäft verlässt, sind alle zufrieden. 

Gute Verkäufer:innen wissen: Wenn Kund:innen nach dem Preis fragen, ist es sinnvoll über die Leistung zu sprechen und die Leistung beziehungsweise die Ware vom Preis zu entkoppeln. 

Einem guten Verhandler geht es nicht darum, den Kuchen einfach nur aufzuteilen. Er macht ihn vorher größer, bevor er die Stücke verteilt, so dass niemand auf etwas verzichten muss. 

Eine wichtige Aufgabe bei der Verhandlung ist es, dem anderen die Entscheidung zu erleichtern!

Häufig verstecken sich hinter den Positionen aber auch Interessen, die wir auf den ersten Blick nicht sehen. Vielleicht geht es dem Kaufinteressierten gar nicht darum 10 Euro weniger zu bezahlen, sondern um das Gefühl, dass er:sie wertgeschätzt und als Verhandlungspartner:in ernstgenommen wird. 

Wir entscheiden nicht nur auf der Basis von Fakten, sondern häufig sind es unsere Emotionen, die die Kaufentscheidung treffen. Und anschließend rationalisieren wir diese emotionalen Entscheidungen dann durch Fakten.

Verhandeln ist daher etwas Emotionales und hinter den Emotionen stehen häufig fünf Grundbedürfnisse, die von Roger Fisher, William Ury und Bruce Patton herausgearbeitet wurden:

1. Autonomie

2. Anerkennung

3. Verbundenheit

4. Rolle (Hierbei handelt es sich um das Bedürfnis eine sinnvolle Aufgabe zu erfüllen)

5. Status

Grundsätzlich gilt: Fragen sind besser als Aussagen

Wer gut vorbereitet in eine Verhandlung geht, tut sich manchmal schwer damit seine Informationen einzusetzen, ohne zu aggressiv aufzutreten. Schließlich will man den anderen nicht zu stark bedrängen. Grundsätzlich gilt daher: Fragen stellen ist besser, als Aussagen zu formulieren. Es ist immer besser dem Gegenüber die Informationen, die man schon hat durch taktische Fragen zu entlocken, so dass das Gegenüber die Informationen selbst noch einmal preisgibt. 

Sollte ich überhaupt verhandeln?

Ein Kernstück des Harvard Konzepts ist die BATNA -batna best alternative to a negotiated agreement. Damit ist die beste Alternative zu einer Verhandlung gemeint. Wenn ich auf der Suche nach einer neuen Wohnung bin und mir verschiedene Angebote einhole, dann ist das bisher beste Angebot meine BATNA zu allen weiteren Verhandlungen. Wenn ich nicht zwingend ausziehen muss, ist meine jetzige Wohnung die BATNA zu allen neuen Wohnungen. Nur wenn eine neue Wohnung wirklich eine bessere Alternative zu meiner aktuellen Wohnsituation darstellt, lohnt sich die Verhandlung überhaupt. Warum sollte ich mich mit einer zu hohen Miete zufriedengeben, wenn meine Alternative besser ist? Die Batna beantwortet auch die Frage, ob ich die Verhandlung überhaupt führen muss.

Das Harvard Konzept ist die Mutter der Verhandlungstechnik. Wer bereits Jack Nasher oder Chris Voss gelesen hat, wird hier einiges wieder erkennen. So zum Beispiel die Batna, auf die Jack Nasher ausführlich eingeht oder der taktisch emphatische Verhandlungsstil, wie man ihn von Chris Voss aus Never Split the Difference (deutsch: Kompromisslos verhandeln) kennt. Das ist kein Zufall, denn natürlich stützten diese Verhandlungsführer einen großen Teil ihres Wissens auf das Harvard Konzept. 

Ich hatte Anfangs etwas Angst, dass das Buch trocken werden könnte. Doch diese Befürchtung hat sich zum Glück nicht bewahrheitet. Das Buch kann man sehr flüssig runter lesen. Es ist gut verständlich und kurzweilig geschrieben. 

Was ich sehr interessant fand ist, dass das Buch nach etwa 60% des eigentlichen Inhalts sein Format etwas ändert. Statt die Methode generell zu besprechen, geht es nun auf spezielle Situationen ein. Beispielsweise ob man mit radikalen Personen überhaupt verhandeln sollte. Es werden historische Beispiele wichtiger Verhandlungen sowohl mit Machthabern als auch mit Terroristen aufgezeigt. Die Frage nach Verhandlungen mit religiös motivierten Personen wird besprochen etc. 

Es eignet sich besonders für Menschen, die Verhandlungen bisher gescheut haben oder die sich schwer damit tun das richtige Maß zwischen hartem Nein-sagen und zu schnellem Ja-sagen zu finden.