Alles nur in meinem Kopf (Buchrezension)


Boris Nikolai Konrad ist Gedächtnisweltmeister. Und trotzdem hat man nie von ihm gehört. Das liegt vor allem daran, dass der Gedächtnissport in Deutschland nicht so viel Aufmerksamkeit bekommt, wie in anderen Ländern.

Insbesondere auf dem asiatischen Kontinent werden Gedächtnissportler gefeiert wie Rockstars. Doch in Deutschland bekam Boris Nikolai Konrad kaum Aufmerksamkeit für seinen Weltmeistertitel.

Ist Gedächtnissport überhaupt Sport?

Bei uns bekommen Fußballer eine Menge Aufmerksamkeit. Auch Biathleten, Handballer, Turner, Schwimmer oder Tour de France Fahrer. Nicht zuletzt Motorsportler. Doch Gedächtnissport ist doch kein Sport, oder?

Sport bedeutet zunächst einmal, dass wir durch Training besser werden und in Wettkämpfen gegeneinander antreten. Das trifft auf die Formel 1 zu, wo man immerhin in einem Auto sitzt. Aber genau so auf Schach und eben den Gedächtnissport.

Es ist besonders schade, dass der Gedächtnissport in Deutschland so wenig Aufmerksamkeit bekommt. Denn die wenigsten würden davon profitieren Formel 1 zu schauen, um bessere Autofahrer zu werden.

Doch ein besseres Gedächtnis wünschen wir uns doch alle, oder?

Das Gedächtnis ist überall

Genau das ist es, was Mnemotechnik, Bücher über das Lernen und Gedächtnissport für mich seit Jahren interessant macht.

Lernen im allgemeinen Sinne, aber auch die Erinnerungsleistung im Besonderen sind so etwas wie ein Meta-Skill. Eine Fähigkeit, mit der das Aneignen aller anderen Fähigkeiten einfacher wird.

Und ich liebe es, mir neue Dinge anzueignen. Ich finde es gleichermaßen praktisch, wie beeindruckend, wenn Menschen ein gutes Gedächtnis haben. Vor allem aber, machen Gedächtnisstrategien den Alltag leichter.

Wer würde nicht gern jeden Tag mühelos 10 Vokabeln einer neuen Sprache lernen? Mit diesem Ansatz erreicht man nach 2 Jahren locker den Wortschatz für ein C1 Level.

Wer würde nicht gern schnell vor der nächsten Party ein paar coole Tanzschritte verinnerlichen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen? Und wer träumt nicht davon sich eloquenter auszudrücken?

Wer ärgert sich darüber, dass er:sie beim Einkaufen ständig die Hälfte vergisst und wieder keinen Zettel geschrieben hat?

Das Gedächtnis ist trainierbar

Boris Nikolai Konrad geht in seinem Buch auf verschiedene Themen ein, die mit der Gedächtnisleistung untrennbar verknüpft sind.

Zunächst einmal wären da biologische und neurowissenschaftliche Grundlagen. Wie ist das Gehirn aufgebaut? Welche Teile gibt es? Wie unterscheiden sich evolutionär ältere Hirnareale von neueren? Was macht den Menschen zum Menschen und wieso verhalten sich Teenager:innen aus der Sicht von Erwachsenen so planlos?

Dann geht er darauf ein, was das Gedächtnis eigentlich ist. Findet man es im Gehirn an einem bestimmten Ort? Was passiert, wenn es in bestimmten Hirnarealen zu Verletzungen kommt? Er beschreibt bekannte Beispiele von Menschen, deren Gehirn geschädigt wurde und welche Folgen dies für diese Menschen hat.

Phineas Gage und die Eisenstange

Vielleicht kennt der ein oder andere die Geschichte von Phineas Gage. Er war ein Arbeiter auf einer Baustelle im 19. Jahrhundert. Eines Tages hatte er einen schweren Unfall: eine Eisenstange bohrte sich quer durch seinen Kopf.

Er überlebte. Sein Gehirn war schwer geschädigt. Doch zur Verwunderung aller, schien ihm das nicht so viel auszumachen.

Die Eisenstange hat so viel Schaden angerichtet, dass man durch die Eintritts- und Austrittsstelle jeweils einen Finger schieben konnte, so dass sich im Inneren seines Schädels beide Finger berührten. Dennoch kann Gage kurz danach wieder sprechen. Auch seine Erinnerung scheint zu funktionieren. Er lebt weiter wie bisher. Zumindest fast. Denn seine Persönlichkeit hat sich stark verändert.

Ihm fehlt es von nun an vor allem an Impulskontrolle. Denn die Stange hat wichtige Teile im vorderen Hirn zerstört, die für vorausschauendes Denken, Planen und die Emotionskontrolle zuständig sind. Doch sein Gedächtnis scheint intakt und auch die überlebenswichtigen Funktionen laufen weiter.

Das Gedächtnis ist nicht an einem bestimmten Ort

Der Autor erzählt von verschiedenen Versuchen das Gedächtnis zu finden. Hier spielen vor allem Tierversuche eine Rolle, aber auch Operationen am Gehirn, mit denen Ärzt:innen versuchen Epileptiker:innen zu helfen, bringen interessante Erkentnisse.

Eine dieser Erkenntnisse ist, dass das Gedächtnis nicht an einem bestimmten Ort sitzt. Es scheint viel mehr über das Gehirn weit verzweigt zu sein.

Und noch etwas beschreibt Boris Nikolai Konrad: Das Gedächtnis ist kein Videorekorder.

Auch wenn wir manchmal das Gefühl haben, dass unsere Erinnerungen in Stein gemeißelt sind. Sie sind es nicht. Anstatt, dass sie abgerufen werden, wenn wir uns an etwas erinnern, ist es viel mehr so, dass die Erinnerung jedes Mal neu konstruiert wird.

Das führt aber auch dazu, dass Erinnerungen anfällig für Veränderungen sind und dass falsche Erinnerungen sehr häufig vorkommen. Man kann Menschen etwas einreden, man kann sie mit der Wortwahl beeinflussen und wenn sich eine falsche Erinnerung erstmal im Gedächtnis eingenistet hat, ist es gar nicht so einfach diese Verbindung wieder loszuwerden.

Siehst du dich selbst in deiner Erinnerung?

Vielleicht kennst du dieses Phänomen auch. Du erinnerst dich an eine Episode aus deiner Vergangenheit. Vielleicht aus deiner Kindheit. Doch du siehst diese Erinnerung nicht aus der Ich-Perspektive, sondern wie ein externer Beobachter. Du siehst dich selbst etwas erleben. Erinnerst du dich dann wirklich an deine Erinnerung?

Laut Boris Nikolai Konrad ist es in diesem Fall wahrscheinlicher, dass du dich nicht wirklich an dieses Erlebnis erinnerst. Sondern, dass du dich daran erinnerst, dass dir jemand davon erzählt hat.

Das fand ich wirklich interessant. Denn wenn ich mich an meine Kindheit erinnere, dann sehe ich mich vor dem Inneren Auge tatsächlich in vielen Episoden von außen.

Es ist sogar noch gruseliger, dass ich mich einmal mit einer Freundin über dieses Phänomen unterhalten habe und sie mir dann von einer Erinnerung an ihre Kindheit erzählte, in der sie sich von außen sieht. Seit dem habe ich diese „Erinnerung“ auch. Ich weiß, dass ich in dieser Situation niemals wirklich dabei war, weil ich diese Freundin erst 15 Jahre nach dieser Situation kennengelernt habe. Doch es fühlt sich für mich an, als würde ich mich selbst an diese Episode aus ihrem Leben erinnern.

Das Gehirn verändert sich ständig

Oft glauben wir, dass sich das Gehirn nach Abschluss der Jugend nicht mehr groß verändert. Es ist auch richtig, dass die größten Prozesse in der Kindheit und Jugend stattfinden. Doch bis ins Hohe Alter werden neue Gehirnzellen gebildet und das Gehirn verändert sich.

Denn immer, wenn wir etwas Neues lernen muss unser Gehirn neue Verbindungen schaffen und diese lassen sich sogar im Gehirn nachweisen.

Zeig mir dein Gehirn und ich sag dir wer du bist

So haben beispielsweise Geigenspieler ein vollkommen anderes Gehirn als Gitarristen. Der Bereich im Gehirn, der für den Daumen der rechten Hand zuständig ist, ist stärker ausgeprägt und vergrößert, als bei nicht Geigenspielern.

Denn je häufiger wir einen bestimmten Teil unseres Gehirns benutzen, desto mehr Verbindungen und Gehirnzellen werden sich hier bilden.

So konnte in einem sehr aufschlussreichen Experiment mit Londoner Taxifahrern nachgewiesen werden, dass diese einen deutlich vergrößerten Hippocampus haben.

Der Hippocampus ist ein Bereich im Gehirn, der vor allem mit der räumlichen Orientierung, aber auch für das deklarative Gedächnis (Zahlen, Fakten, Namen, Daten) und die Zusammenführung von räumlichen Erinnerungen zuständig ist. Menschen mit Schädigungen in diesem Gehirnbereich haben Probleme mit der Sprache und dem Gedächtnis. Außerdem entstehen im Hippocampus während der Neurogenese neue Gehirnzellen und das sogar bei Erwachsenen.

London ist eine Stadt mit einem sehr verzweigten Straßennetz. Anders als beispielsweise Los Angeles oder andere Planstädte, die auf dem Reißbrett entstanden sind, ist London historisch gewachsen. Die Straßen sind verzweigt, überall gibt es Einbahnstraßen, kleine Gassen führen kreuz und quer durch die Stadt. Die Sehenswürdigkeiten sind an den verrücktesten Orten, wo sie niemand erwartet hätte. Um in London als Taxifahrer zugelassen zu werden, muss man sich mehrere Jahre auf eine sehr schwere Prüfung vorbereiten.

In dieser Prüfung muss man die Stadt in und auswendig kennen und es fallen jedes Mal viele Teilnehmer:innen durch.

Doch wer es schafft, der hat sein Gehirn verändert. Denn beim Lernvorgang verändert sich der Hippocampus und wächst.

Korrelation oder Kausalität?

Jetzt darf man zu Recht fragen: Kommt die Veränderung durch den Lernprozess? Oder haben einfach Menschen, die von Natur aus einen stärker ausgebildeten Hippocampus haben bessere Karten dabei die Prüfung zu bestehen?

Doch es scheint tatsächlich so zu sein, dass das Lernen für die Prüfung und natürlich das Taxifahren in London die Ursache für das Wachstum im Hippocampus ist. Denn es konnte in weiteren Studien nachgewiesen werden, dass der Hippocampus umso größer ist, je länger der:die Fahrer:in in London Taxi fährt.

Lernen verändert also das Gehirn tatsächlich und je mehr wir lernen, desto einfacher machen wir es neuen Informationen an unser vorhandenes Wissen anzuknüpfen.

Gedächtnistraining lohnt sich

Abschließend kann man sagen: Es lohnt sich immer, sich mit dem Gedächtnis auseinanderzusetzen. Durch simple Gedächtnisstrategien gelingt es jedem Menschen sein Gedächtnis in kurzer Zeit deutlich zu verbessern. Wobei verbessern der falsche Ausdruck ist. Denn es ist eher so, dass wir lernen es besser zu nutzen.

Denn eigentlich haben wir alle schon ein gutes Gedächtnis, wir haben nur niemals gelernt es wirklich effizient zu gebrauchen.

Wenn wir aber trainieren Informationen besser zusammenzufassen, Assoziationen zu vorhandenem Wissen zu bilden und das Gelernte in den richtigen Abständen zu wiederholen, können wir unsere Gedächtnisleistung deutlich steigern.

Für diese Rezension habe ich vom Verlag ein Rezensionsexemplar erhalten.


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