Verbrechen von Nebenan

Neben vielen Büchern über Persönlichkeitsentwicklung, Marketing und Business im Allgemeinen lese ich leidenschaftlich gern das Genre True Crime und höre gerne und häufig True Crime Podcasts. Einer der Podcasts, die ich sehr regelmäßig höre ist „Verbrechen von Nebenan“ von Philipp Fleiter. Ein Podcast, der sich ursprünglich auf wahre Verbrechen aus Ostwestfalen konzentriert hat und seinen Radius inzwischen auch auf andere Regionen erweitert hat.

Umso mehr habe ich mich gefreut, als der Goldmann Verlag mir dieses Buch als Rezensionsexemplar zugeschickt hat.

Das Buch enthält 15 Fälle aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, wovon 10 komplett neu sind und noch gar nicht im Podcast behandelt wurde. Außerdem gibt es einige Interviews mit Expert:innen als Bonus oben drauf. Darunter unter anderem Lydia Benecke, Nahlah Saimeh und weiteren.

Ich gebe zu, es ist der ein oder andere Fall dabei, wo man beim Lesen an der Gerechtigkeit zweifelt. So ging es mir zum Beispiel beim Fall von Harry Wörz oder dem Parkhausmord von München an Charlotte Böhringer.

Zwei Fälle, die ich auch schon aus dem Podcast kannte.

Darf man Mitleid für Täter:innen haben?

Ich kam auch nicht umhin mit dem ein oder anderen Täter irgendwie Mitleid zu haben. Denn selbst wenn die beschriebenen Taten abscheulich sind, so zeigen uns solche Falldarstellungen auch immer, dass jeder Mensch eine ganz eigene Historie hatte. Und auch wenn die Vergangenheit die Tat nicht rechtfertigen oder entschuldigen kann, so musste ich mich doch fragen, ob diese Situationen auch eingetreten wären, wenn der Täter unter anderen Umständen aufgewachsen wäre.

Das ist ein Gedanke, der durch das Interview mit der forensischen Psychiaterin und Gutachterin Nalah Saimeh sehr gut herausgestellt wird: Auch, wenn die Taten durch nichts zu entschuldigen sind, gibt es immer Gründe, warum jemand in solche Situationen gerät.

An der Stelle sei als weiterführende Lektüre auch das Buch „Jeder kann zum Mörder werden: Wahre Fälle einer forensischen Psychiaterin“ (Amazon Affiliate Link) von Nahlah Saimeh empfohlen.

Und bevor wir Täter:innen verurteilen, müssen wir uns auch fragen, wozu wir fähig wären, wenn uns das Schicksal härter getroffen hätte.

Dieser Gedanke kam für mich besonders im Fall „Tod einer Lehrerin“ zum Tragen. Das Kapitel bezieht sich auf den Stalking Tod der Lehrerin Heike Block aus Bremen. Sie wurde von einem ehemaligen Schüler ihrer Schule ermordet.

Heute wirft die Familie von Heike Block vor allem der Schule und den Behörden Versagen vor, weil man das Stalking des Täters nicht früher als solches erkannt und die junge Frau geschützt hat. Das kann ich sehr gut nachvollziehen.

Nur ich denke auch, dass ein präventiver Schutz nur funktioniert hätte, wenn man den Täter in erster Linie vor sich selbst geschützt hätte. Es hätte nichts gebracht, den Schüler einfach nur in eine andere Klasse zu versetzen oder von der Schule zu verweisen. Es handelt sich bei dem verurteilten Täter um jemanden, der offensichtlich ernsthafte psychische Probleme hatte und auch wenn er für seine Taten voll verantwortlich ist, ist er für mich ein Stückweit auch ein Opfer. Denn es hätte möglicherweise gar nicht soweit kommen müssen, wenn man diese psychischen Probleme viel früher erkannt hätte.

Darf man Sympathie für Täter:innen haben?

Eine andere Frage, die sich vor allem bei Dagobert und Mister Money stellt ist, ob wir Sympathie mit Täter:innen haben dürfen?

Ich kann gut verstehen, wieso der Kaufhauserpresser Dagobert in der Presse viel Sympathie bekommen hat. Arno Funke, der Ende der 80er und in den 1990er Jahren einige Kaufhäuser mit selbstgebastelten Bomben erpresst hat, erscheint ein bisschen wie ein Robin Hood.

Von der Gesellschaft irgendwie im Stich gelassen, jeder unterschätzt ihn, in Wirklichkeit ist er hochintelligent und dann führt er die Polizei an der Nase herum. Vor allem die technischen Erfindungen, mit denen er die Geldübergabe abwickelte, lösen eine gewisse Faszination aus. Und solche Geschichten verkaufen sich in der Presse natürlich gut.

Das ist dieser David-gegen-Goliath-Plot. Der kleine Kaufhauserpresser und die „dummen“ Polizisten, die ihn nicht schnappen können und bei der Verfolgungsjagd noch irgendwo ausrutschen wie in einem Micky Mouse Comic.

Ähnlich ging es vielen mit Jürgen Harksen dem „Mister Money“ der die reiche Hamburger Oberschicht mit seinem Schneeballsystem reinlegte.

…oder ist es nur unser Neid auf „die da oben“?

Doch irgendwie schwingt bei so etwas ja auch immer der Neid mit. Solche Geschichten über einen Jürgen Harksen kommen gerade deswegen so gut an, weil große Teile der Bevölkerung es als Genugtuung empfinden, dass die Besserverdienenden auch nicht schlauer sind als sie selbst. Oder vielleicht sogar ein bisschen dümmer. Wenn die Gier das Hirn ausschaltet.

Ich gebe zu: als ich vor etwa sechs Jahren Jürgen Harksens AutobiografieWie ich den Reichen ihr Geld abnahm: Die Karriere eines Hochstaplers“ gelesen hatte, fand ich ihn cool.

Ich hatte auch ein wenig Mitgefühl, als er von seiner Familiengeschichte erzählte und über seine Legasthenie berichtete. Ich konnte mich gut darin hineinversetzen, dass Harksen Genugtuung dabei empfand jetzt der Schlauere zu sein, nachdem man ihm so lange so wenig zugetraut hatte. Und bei der ein oder anderen Story musste ich auch echt über die „Dummheit“ einiger Anleger lachen. (Wobei hier gesagt werden sollte, dass ich natürlich nur eine Seite der Geschichte kenne).

Doch als ich den Fall dann im Buch „Verbrechen von Nebenan“ noch einmal gelesen habe, entstand bei mir ein etwas dreidimensionaleres Bild und ich konnte die Sympathie für Harksen nur noch teilweise nachvollziehen. Und bekam insgesamt auch mehr Mitleid mit den Opfern.

Vom Podcast zur Tour, zum Fernsehformat, zum Buch…

„Verbrechen von Nebenan“ ist aber noch aus anderen Gründen ein Format, das ich sehr cool finde. Denn Philipp hat das geschafft, wovon viele Onlineunternehmer und Contentersteller träumen. Er hat mit einem einzelnen Angebot (in dem Fall seinem Podcast) angefangen und daraus ein ganzes Contentuniversum geschaffen. Inzwischen ist er Moderator einer Truecrime-Serie auf Sky und man kann über Eventim Tickets für seine Live Tour kaufen. Und natürlich dieses Buch im Goldmann Verlag. Für mich ist das ein richtig inspirierendes Beispiel dafür, wie viel man in Rekordzeit von ca. 3 Jahren auf die Beine stellen kann, wenn man motiviert ist und an seinen Zielen arbeitet. Ob die Coronapandemie dabei eher ein Hindernis war oder dem Erfolg des Podcasts vielleicht sogar irgendwie geholfen hat, weiß ich natürlich nicht.

Um realistisch zu bleiben, muss man aber auch sagen, dass Philipp ein paar „Unfair Advantages“ hatte und das meine ich nicht negativ, sondern in der Form, wie es die Autoren Ash Ali und Hassan Kubba in ihrem Buch „The Unfair Advantage“ (Affiliatelink zu Amazon) eingeführt haben.

Der „Unfair Advantage“

Ein unfair Advantage, also ein unfairer Vorteil meint nichts moralisch verwerfliches. Viel mehr beschreiben Ali und Kubba in ihrem Buch, dass wir alle mit „unfair Advantages“ gesegnet sind. Das ist nicht immer Geld, das jemand aus einer reichen Familie hat. Bei einigen ist der unfaire Vorteil, dass sie in ihrer Jugend ein Instrument gelernt haben oder zweisprachig aufgewachsen sind. Wenn meine Muttersprache zum Beispiel Chinesisch ist werde ich in vielen Wirtschaftszweigen einen Vorteil haben.

Und genau so hat auch Philipp Fleiter einen unfairen Vorteil gehabt, der ihm sicherlich hier und da zu Gute gekommen ist (seinen Erfolg im Ganzen aber nicht schmälern soll): Er ist nämlich Radiomoderator. Und wenn ich es richtig einschätze, nimmt er den Podcast auch im Radiostudio auf – zumindest nimmt er ihn mit professionellem Equipment auf.

Gleichzeitig hat er durch die journalistische Ausbildung natürlich etwas Übung darin zu recherchieren, Archive zu wälzen, Content sauber strukturiert aufzubearbeiten etc.

Das soll den Erfolg keineswegs schlecht reden. Wenn man sich Philipp zum Vorbild nimmt, sollte man aber bedenken, dass er von seinem Startpunkt bis zum Nummer 1 Podcast ein wenig Zeit gespart hat. Denn er musste seine Angst vor dem Sprechen nicht so überwinden, wie das jemand tun müsste, der noch nie in ein Mikrofon gesprochen hat. Er wusste von Anfang an, wie man eine Story für ein Hörpublikum strukturiert und worauf man bei der Recherche achten sollte.

Doch auch, wenn wir diese unfairen Vorteile ausblenden ist „Verbrechen von Nebenan“ immer noch ein Wahnsinnserfolg, den ich dem Radio- und Fernsehmoderator, Podcaster, Buchautor und True Crime Junkie Philipp Fleiter auf jeden Fall gönne.

Das Buch ist übrigens auch als Hörbuch auf Audible (Affiliatelink zu Amazon) erschienen.